Auf der Suche nach gefährlichen Relikten

Unter der Siegtalbrücke - mitten zwischen den mächtigen Pfeilern des rund ein Kilometer langen Kolosses nimmt die Autobahn Westfalen Kampfmittelsondierungen vor.

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Hamm/Netphen. Geschmeidig und fast widerstandslos gleitet die rund fünf Meter lange Bohrschnecke in die Erde. Insgesamt 45 Mal wird sie das an diesem Tag noch tun - immer mit dem Ziel, längst vergessene Relikte aufzuspüren. Runter, hoch und wieder runter bewegt sich die Schnecke - solange, bis ein etwa sechs Meter tiefes, schmales Loch entstanden ist. Unter der Siegtalbrücke - mitten zwischen den mächtigen Pfeilern des rund ein Kilometer langen Kolosses nimmt die Autobahn Westfalen Kampfmittelsondierungen vor.

Angst, dass dabei etwas schiefgeht, haben die Ingenieure vor Ort nicht. „Eine Gefahr, bei den Bohrungen Kampfmittel oder eine Bombe zu beschädigen, besteht nicht“, erläutert  Katharina Erbismann, Teamleiterin im Konstruktiven Ingenieurbau in der Außenstelle Netphen bei der Autobahn Westfalen. Die Bohrschnecke sei vorne stumpf und stoppe den Bohrvorgang sofort, wenn die vordere Kante auf einen harten Gegenstand treffe.

Luftaufnahmen können wichtige Hinweise liefern

Der Blick auf mögliche Relikte aus dem Zweiten Weltkrieg im Baugrund sind immer Teil der Vorentwurfsplanung bei einem geplanten Brückenneubau. Die Arbeiten sind notwendig, um beim Start der Bauarbeiten gefährliche Blindgänger im Untergrund auszuschließen. Grundlage für Sondierungen sind unter anderem Luftaufnahmen der alliierten Streitkräfte aus dem Zweiten Weltkrieg, die den zuständigen Bezirksregierungen (NRW), Regierungspräsidien (Hessen) oder dem Landesamt für Geoinformation und Landesvermessung (Niedersachsen) zur Verfügung stehen. Daraus ergeben sich mögliche Beschussbereiche oder so genannte Verdachtsflächen, in denen Kampfmitteln aus dem Zweiten Weltkrieg schlummern könnten. „Wenn eine Aufnahme Trichter am Boden erkennen lässt, ist es sehr wahrscheinlich, dass dort Bomben abgeworfen wurden“, erklärt der Geschäftsbereichsleiter Planung in der Niederlassung Westfalen, Dieter Reppenhorst.

Vorgenommen werden die Sondierungen von Fachfirmen, die auf Kampfmittelbeseitigung und Bodenerkundungen spezialisiert sind. Im Fall der Siegtalbrücke wird in das gebohrte Loch ein PVC-Rohr eingeführt, in das wiederum eine Metallsonde abgelassen wird. Diese misst im Umfeld von 75 Zentimetern metallisches Material. Schlägt die Sonde an, heißt das aber noch nicht, dass sich tatsächlich ein Blindgänger im Boden befindet.

Erinnerungen sind für die Planungen wertvoll

Die Auswertung der Messergebnisse erfolgt später durch die Kampfmittelräumdienste der jeweiligen Regierungsbehörden. Die Daten landen dann bei den Ordnungsämtern der Städte oder Gemeinden. Die melden sich abschließend bei der Autobahn-Gesellschaft und teilen die gegebenenfalls erforderlichen Maßnahmen mit.

Doch nicht nur Kartenmaterial und Luftaufnahmen sind Grundlage für die Kampfmittelsondierungen. Ein weiterer - nicht zu unterschätzender - Faktor bei der Suche nach gefährlichen Relikten ist die Erinnerung von Menschen, die den Krieg noch erlebt haben. „Diese Erinnerungen sind für unsere Vorplanungen von unschätzbarem Wert. Die Menschen können oftmals exakt wiedergeben, wo damals Blindgänger eingeschlagen sind“, erklärt Reppenhorst.

„Könnte mir nie verzeihen, wenn bei den Bauarbeiten etwas passiert“

Wie wichtig solche Informationen für die Autobahn sein können, zeigt das Beispiel von Gisbert Vierbücher. Der Siegener erlebte als achtjähriger Junge, wie ein Blindgänger neben dem Getreidesilo einer ehemaligen Walzenmühle einschlug - genau dort, wo heute die Siegtalbrücke steht. „Als ich in der Zeitung gelesen habe, dass die Brücke in ein paar Jahren neu gebaut werden soll, war für mich sonnenklar, dass ich mein Wissen teilen muss. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn später bei den Bauarbeiten etwas passiert“, so der heute 84-Jährige. Und so nahm er Kontakt zur Autobahn Westfalen auf, um seine Beobachtungen von damals zu Protokoll zu geben. „Ich habe mir die Stelle genau gemerkt“, sagt er. „Das Ding flog an mir vorbei, schlug auf der Wiese auf, aber explodierte nicht. Ich hörte nur ein Zischen, dann drang die Bombe in die Erde ein und war verschwunden - auf Nimmerwiedersehen“. Gemeinsam mit den Autobahn-Mitarbeitern wurden Karten gewälzt - und tatsächlich: An der Stelle, wo die Bombe eingeschlagen ist, weist die Topografie eine Vertiefung aus.

„Bei einem Vor-Ort-Termin stellte sich dann heraus, dass die mutmaßliche Einschlagstelle des Blindgängers nicht im Bereich unserer Baufläche liegt. Somit hatten wir keine Berechtigung, an dieser Stelle zu sondieren“, so Katharina Erbismann. Diesen Hinweis einfach ins Leere laufen zu lassen, sei natürlich auch nicht gegangen, „zumal uns natürlich die Sicherheit der Anlieger wichtig ist“, ergänzt die Ingenieurin.  Aus diesem Grund wurde ein Vermerk verfasst, der Augenzeugenbericht sowie der vermutliche Einschlagpunkt dokumentiert und anschließend ans Ordnungsamt geschickt. Die städtischen Mitarbeiter werden mit Gisbert Vierbücher Kontakt aufnehmen, so dass Hinweis von den zuständigen Stellen also weiter nachgegangen wird.

Kontakt: Anke Bruch

mailto:anke.bruch[at]autobahn[dot]de